Der Mordfall Frederike bewegt das Land schon seit Jahrzehnten. Durch ein neues Gesetz, das 2021 eingeführt wurde, gab es Hoffnung, dass der vermeintliche Mörder endlich verurteilt werden würde. Neue DNA-Spuren hätten die Grundlage für eine neue Verhandlung bieten können, doch daraus wird nun nichts mehr. Das BVerfG erklärt den § 362 Nr. 5 StPO für nichtig.

Ein zweiter Prozess aufgrund einer neuen Beweislage ist nicht mit Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) vereinbar. Das entschied nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), nachdem das Landgericht (LG) Verde einem Wiederaufnahmeantrag für den Mordfall Frederike stattgab. Das BVerfG erklärt
den neu eingeführten § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) in seinem Urteil für nichtig (Urt. v. 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22).

Ein Mann namens Ismet H. (heute 60 Jahre alt) wird verdächtigt, die 17-jährige Frederike aus Hambühren bei Celle 1981 vergewaltigt und erstochen zu haben, als diese sich gerade vom Musikunterricht auf dem Heimweg befand. Das konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden.

Nachdem er 1982 vom LG Lüneburg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf und verwies den Fall an das LG Stade. Dieses sprach den Angeklagten ein Jahr später frei.

Neue DNA-Befunde sollten Fall aufrollen

Neue DNA-Untersuchungen im Jahr 2012 ergaben sodann, dass der damals Freigesprochene doch der Mörder sein könnte. Die gefundenen Sperma-Spuren konnten dem einst Angeklagten somit erst viele Jahre später nachgewiesen werden. Gestützt auf den im Dezember 2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO, konnte das Verfahren im Februar 2022 aufgrund der neuen Beweismittel wieder aufgenommen werden.

Die Norm, die durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ eingeführt wurde, ermöglicht die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen eine Person, die zuvor freigesprochen wurde, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten darlegen. Das LG Verden erklärte den Wiederaufnahmeantrag in einem Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete die Untersuchungshaft gegen den Mann an.

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Gegen diese Entscheidung reichte Ismet H. eine Beschwerde ein, die in einem Beschluss vom 20. April 2022 vom Oberlandesgericht (OLG) Celle zurückgewiesen wurde. Nun wendete sich der Mann an das BVerfG. In seiner Verfassungsbeschwerde ging der Beschwerdeführer direkt gegen die Beschlüsse des OLG und des LG sowie indirekt gegen § 362 Nr. 5 StPO vor. Dabei macht er geltend, dass seine Rechte gemäß Art. 103 Abs. 3 GG (Mehrfachverfolgungsverbot) sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Anspruch auf ein faires Verfahren) verletzt seien. Auf einer einstweiligen Anordnung hin, wurde der Vollzug des Haftbefehls dann zum 14. Juli 2022 und nochmals zum 20. Dezember 2022 ausgesetzt.

Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet

Vor Gericht folgte dann der Paukenschlag für die Hinterbliebenen der ermordeten Frederike, die seit Jahrzehnten für ihre Gerechtigkeit kämpfen: Das BVerfG erklärt, § 362 Nr. 5 StPO würde gegen das Mehrfachverfolgungsverbot sowie gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbiete dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

Art. 103 Abs. 3 GG gewährt Schutz gegen eine erneute Strafverfolgung für dieselbe Tat, indem er das „ne bis in idem“-Prinzip festlegt. Dieses Prinzip, welches den Grundsatz des Strafklageverbrauchs darstellt, müsse von den Strafgerichten und Strafverfolgungsorganen in jedem Stadium des Strafverfahrens beachtet werden, wie das BVerfG erklärt. Außerdem handele es sich dabei um ein individuelles Recht, das Verurteilten und Freigesprochenen gleichermaßen gewährt werden müsse und einer erneuten Strafverfolgung widerspreche. Der Gesetzgeber könne laut den Karlsruher Richtern dieses Verbot nicht einschränken, selbst wenn er Regeln für die Wiederaufnahme von Strafverfahren schaffen würde. Art. 103 Abs. 3 GG würde der Rechtssicherheit absoluten Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit geben. Dieser Verfassungsartikel soll ferner den Schutz des Einzelnen und seines Vertrauens in rechtskräftige Urteile und Rechtssicherheit gewährleisten. Art. 103 Abs. 3 GG hätte daher Vorrang vor anderen Verfassungsgütern und stellt somit eine Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt dar.

Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen seien laut dem BVerfG unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr seien sie die Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spiele. Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebiete keine andere Bewertung.

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Schon bei Unterzeichnung der Norm gab es Bedenken

Das Karlsruher Gericht entschied also, dass § 362 Nr. 5 StPO gemäß § 95 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für nichtig zu erklären sei. Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des OLG Celle und des LG Verde seien also aufzuheben. Die Sache wurde zurück an das LG verwiesen.

Schon beim Inkrafttreten der Vorschrift im Dezember 2021 hatten hitzige Diskussionen im Parlament und in der juristischen Fachwelt stattgefunden. Verfassungsjuristen, wie auch Anwaltsverbände, das Bundesjustizministeriums und sogar der Bundespräsident hatten verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. Bei der Einführung der Norm wurde seitens der schwarz-roten Koalition argumentiert, das Verbot der Doppelbestrafung betreffe den Kernbereich des Grundrechtes, während sich das Verbot mehrfacher Verfolgung nur auf einen Randbereich beziehe. Außerdem diene § 362 Nr. 5 StPO dem Zweck, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten. Und dies könne nur erreicht werden, wenn einem Tatverdacht hinreichend nachgegangen werde. Außerdem gelte § 362 Nr. 5 StPO nur für sehr schwere Taten wie Mord und Kriegsverbrechen.

Das BVerfG stellte jedoch nunmehr klar, eine Regelung zur Wiederaufnahme von Strafverfahren könne grundsätzlich nicht auf die Belange von Opfern, beziehungsweise deren Angehörigen gestützt werden. Aus der staatlichen Schutzpflicht ergebe sich zwar durchaus ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung. Jedoch verbürge der Anspruch auf effektive Strafverfolgung kein bestimmtes Ergebnis. Eher werden die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden verpflichtet, wie das BVerfG erklärt. Außerdem wäre ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie enden würde, für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre – so zumindest die Ansicht der Karlsruher Richter.

Im Übrigen wurde zwar die Frage des gerügten Verstoßes gegen das Verbot der echten Rückwirkung einstimmig entschieden. Bei der Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Art. 103 Abs. 3 GG herrschte jedoch Uneinigkeit. Am Ende stand es 6 : 2 Stimmen. Richterin Christine Langenfeld und Richter Peter Müller gaben ein Sondervotum ab.

Die Hoffnung von Frederikes Familie auf Ruhe und Gerechtigkeit konnte vom BVerfG leider nicht erfüllt werden. Ismet H. wird nicht noch einmal der Prozess gemacht.

agr