Selbst wenn ein Verhalten des Arbeitnehmers grundsätzlich dazu geeignet ist eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen, kann die Kündigung im konkreten Einzelfall unwirksam sein, wenn Umstände gegeben sind, die eine vorherige Abmahnung erforderten. Zwei Gerichte kamen trotz unterschiedlicher Sachverhalte zu diesem Ergebnis.
In zwei unterschiedlichen Fällen hatten zwei Arbeitgeber jeweils einem ihrer Beschäftigten fristlos gekündigt. Nachdem die vorinstanzlichen Arbeitsgerichte die Unwirksamkeit der Kündigungen angenommen hatten, legten die Arbeitgeber jeweils eine Berufung gegen das sie betreffende Urteil ein. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 21.6.2022, Az. 5 Sa 245/21) und das Landesarbeitsgericht Thüringen (Urt. v. 29.6.2022, Az. 4 Sa 212/21) stellten nun erneut die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigungen fest. Die Berufungen der beklagten Arbeitgeber wurden in beiden Fällen zurückgewiesen.
Unterschiedliche Kündigungsgründe
In der Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern ging es um einen Schlosser, der sich ohne Erlaubnis seines Arbeitgebers einen Firmen-Transporter ausgeliehen hatte. Nachdem er 10 km damit gefahren war, hatte er ihn ohne zu tanken wieder abgestellt. Damit hatte er seine arbeitsvertragliche Pflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verletzt, nämlich Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Arbeitgebers zu nehmen. Der Arbeitgeber kündigte dem Schlosser daraufhin fristlos.
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Das LAG Thüringen hatte sich mit dem Fall einer als Ökonomin beschäftigten Arbeitnehmerin befasst. Diese hatte nach einer Kündigung im Jahr 2016 einen Rechtsstreit mit ihrem Arbeitgeber geführt und hatte in dem Verfahren die begehrte Weiterbeschäftigung erreicht. Nachdem sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, musste sie unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen in einem verschimmelten, verdreckten und 11 Grad kalten Keller Archivarbeiten erledigen. Später bekam sie zwar ein Büro zugeteilt, musste jedoch für die Arbeit im Archiv schwere Unterlagen über einen Hof tragen, obwohl es einen leichteren Zugang zum Archiv gab. Dabei war sie den Blicken ihrer Kollegen ausgesetzt, wodurch sie sich erniedrigt, schikaniert und ausgelacht gefühlt hatte. Im September 2019 sprach der Arbeitgeber eine ordentliche, fristgemäße Kündigung aus. Als die Ökonomin sich im November 2019 in einem Telefonat während der Arbeitszeit gegenüber einer ehemaligen Arbeitskollegin in grob beleidigender Weise über ihren Vorgesetzten und ihre Kolleg*innen äußerte, hörten dies zwei Kolleginnen mit. Auch hier folgte eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber.
Grundsatz: Abmahnung vor Kündigung
Sowohl ordentliche als auch außerordentliche Kündigungen wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen grundsätzlich eine vorherige Abmahnung voraus. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn bereits im Voraus zu erkennen ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach einer Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass „selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar“ ist und der Arbeitnehmer dies erkennen kann (Bundesarbeitsgericht, Urt. v. 13.12.2018, Az. 2 AZR 370/18). Für eine solche Bewertung, sind, neben den Interessen des Arbeitgebers, auch die Interessen des in der schwächeren Position stehenden Arbeitnehmers zu berücksichtigen sowie weitere ihn entlastende Umstände.
Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern
Im Falle des ohne Erlaubnis ausgeliehenen Firmenfahrzeugs, war für das LAG entscheidend, dass keine klare interne Regelung existierte, die die Möglichkeit des privaten Gebrauchs von Firmenfahrzeugen regelte. Der Arbeitgeber hatte dem Arbeitnehmer zuvor einmal erlaubt einen Transporter für den privaten Gebrauch auszuleihen. Daher durfte der Schlosser, nachdem er sogar vergeblich versucht hatte seinen Arbeitgeber zu erreichen, davon ausgehen, dass ihm die Erlaubnis auch dieses Mal erteilt worden wäre. Des Weiteren war der Arbeitnehmer bereits 10 Jahre beschäftigt und hatte in der Vergangenheit keine ähnliche Pflichtverletzung begangen, die schon einmal eine Abmahnung nach sich gezogen hatte. Wäre dies der Fall gewesen, hätte dies die Kündigung gegebenenfalls rechtfertigen können.
Entscheidung des LAG Thüringen
Im Falle der Entscheidung des LAG Thüringen, war die Situation etwas komplizierter. Die vorhergehende Schikane, das Mobbing und die Erniedrigung in Verbindung mit den unzumutbaren Arbeitsbedingungen der klagenden Arbeitnehmerin, stellten besondere Umstände dar, die in erster Linie vom beklagten Arbeitgeber zu vertreten waren. Aufgrund dieser Stresssituation konnte nicht ausgeschlossen werden, dass der klagenden Arbeitnehmerin „der Blick für die Bedeutung ihrer Äußerungen verstellt gewesen sein könnte“. Setzt man die Äußerungen der Arbeitnehmerin ins Verhältnis zum Verhalten des Arbeitgebers, sind diese auch nicht so schwerwiegend, dass dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen wäre. Es sei sogar nachvollziehbar, dass die Arbeitnehmerin in ihrer Situation emotional reagiert hatte, so das LAG. Sie habe dabei nicht davon ausgehen können, dass der Arbeitgeber ihr Verhalten nicht hinnimmt und das Arbeitsverhältnis fristlos beendet. Zudem erfolgten die Äußerungen gegenüber einer dritten Person und waren nicht direkt an die Kolleg*innen und den Vorgesetzten gerichtet. Ebenfalls war zu berücksichtigen, dass die Arbeitnehmerin schon 16 Jahre bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt gewesen war.
In beiden Fällen konnte aufgrund besonderer Umstände zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass eine vorherige Abmahnung das weitere Verhalten der Arbeitnehmer beeinflusst hätte. Eine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung durch den Arbeitgeber war ebenfalls nicht gegeben, sodass eine vorherige Abmahnung insgesamt nicht entbehrlich war. Die fristlosen Kündigungen waren jeweils unwirksam.
Vorgehen in der Praxis
Die beiden Entscheidungen zeigen, dass es sich für Arbeitnehmer in vielen Fällen lohnen kann gegen eine Kündigung vorzugehen. Anwälte/Anwältinnen helfen dabei die besonderen Umstände des Sachverhaltes zu analysieren und zu bewerten. Die Einholung anwaltlichen Rates ist insbesondere bei komplizierten Sonderfällen, aber auch bei allgemeinen Unsicherheiten zu empfehlen. Dies gilt ebenso für Arbeitgeber. Sofern eine vorherige Abmahnung erforderlich war, aber unterblieben ist, erschwert dies die Durchsetzung der Rechte des Arbeitgebers vor Gericht und insbesondere fristlose Kündigungen können nur noch schwer begründet werden. Wichtig ist daher, dass die ausführliche Bewertung des konkreten Sachverhaltes noch vor der endgültigen Kündigungsentscheidung erfolgt.
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