Was ist anstrengender: Zehn Stunden Bahn fahren oder einen Tag als Chefarzt einer Reha-Klinik arbeiten? Die Antwort dürfte wegen der hohen Belastung, denen Chefärzte ausgesetzt sind, recht klar sein. Trotzdem hat das LAG Mecklenburg-Vorpommern diese Frage in einem arbeitsrechtlichen Streit zwischen einer Reha-Klinik und deren Chefarzt nochmals klargestellt. Ein Arzt ist trotz Krankschreibung zehn Stunden mit der Bahn in die Heimat gefahren. Die Arbeitgeberin äußerte daraufhin Zweifel an der Krankschreibung.

Eine Reha-Klinik behielt den Lohn des Chefarztes ein, weil dieser während der Krankschreibung zehn Stunden mit der Bahn in die Heimat fuhr. Doch eine Krankschreibung muss nicht zwangsläufig zweifelhaft sein, nur weil der Krankgeschriebene lange mit der Bahn in die Heimat fährt. Das entschied nun das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 13.07.2023, Az. 5 Sa 1/23).

Der Chefarzt einer Reha-Klinik in Stralsund ließ sich bis zum Antritt seines Resturlaubs vor einem Jobwechsel krankschreiben. An sich nicht ungewöhnlich – zum Streit mit der Arbeitgeberin kam es aber wegen einer Handlung, die während der Krankschreibung des Arztes erfolgte: Der Krankgeschriebene fuhr mit der Bahn zehn Stunden lang in die Heimat. Die Reha-Klinik zweifelte aufgrund dieser langen Bahnfahrt an der Krankschreibung und wollte daher den Lohn des Chefarztes einbehalten. Der Fall landete schließlich vor dem LAG Mecklenburg-Vorpommern.

LAG teilt Bedenken der Klinik nicht

Die Richter des LAG waren anderer Ansicht als die Arbeitgeberin. Laut den Rostocker Richtern sei eine Bahnfahrt, auch wenn sie zehn Stunden dauert, nicht gleichzusetzen mit einem Arbeitstag in der Klinik. Schließlich sei die körperliche Belastung bei einer derart langen Bahnfahrt in der ersten Klasse bei weitem nicht so hoch wie in der Klinik. Bei der Arbeit müsse sich der Arzt nämlich körperlich anstrengen und darüber hinaus hoch konzentriert sein. Anders sähe das hingegen bei der Bahnfahrt aus. Hier habe der Arzt laut Gericht eine entspannte Sitzposition einnehmen können, sich bei Bedarf jedoch auch bewegen können. Das LAG sah die Zweifel an der Krankschreibung somit als unberechtigt. Daher wurde dem Krankgeschriebenen sein Anspruch auf Lohnfortzahlung aus §§ 3 und 4 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EntgFG) zugesprochen.

Die Arbeitgeberin führte vor Gericht an, dass der Chefarzt seit seiner Kündigung im August 2021 bis zu seinem Austritt im folgenden Februar 2022 47 Tage krankgeschrieben gewesen sei. Und eben diese Krankschreibung sei exakt bis zum Beginn seines Resturlaubs abgestimmt gewesen.

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Hoher Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Doch auch diese Argumente brachten die Rostocker Richter nicht von ihrer Linie ab. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei laut Gericht das gesetzlich vorgegebene Beweismittel für die Arbeitsunfähigkeit. Zwar könnte der Beweiswert einer solchen Bescheinigung angezweifelt werden, wenn der Arbeitgeber anderweitige Umstände beweisen könne. Nichtsdestotrotz könnten Krankheiten sowohl vor als auch nach dem Zeitpunkt der Kündigung auftreten. Dass die Ablösungsphase durch eine Krankschreibung überbrückt wird, könne laut dem LAG nicht automatisch darauf schließen lassen, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung makelbehaftet sei. Dafür müssten weitere Umstände aufgezeigt werden, die an der Bescheinigung zweifeln ließen. Solche Umstände habe die Arbeitgeberin in diesem Fall aber nicht vorgetragen.

Wer krankgeschrieben ist, darf trotzdem Bahn fahren

Das LAG unterstreicht in seiner Urteilsbegründung die Bedeutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Beweismittel. Es bedarf also wesentlich mehr, als nur einen grundsätzlichen Zweifel, wie ihn hier die Arbeitgeberin hatte, um den Beweiswert der Bescheinigung ernsthaft in Frage zu stellen.

agü