Wie aus den Schlussanträgen einer Generalanwältin des EuGH hervorgeht, könnten die Mitgliedstaaten die Abgeltung nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs am Ende des Arbeitsverhältnisses beschränken. Die Mitgliedsstaaten dürften Voraussetzungen festlegen, um die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen und sicherzustellen, dass der Jahresurlaub tatsächlich genommen wird. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt seien, stehe auch dem Wegfall einer finanziellen Vergütung nichts entgegen.
Der Fall betrifft einen ehemaligen öffentlichen Bediensteten in Italien, der von Februar 1992 bis Oktober 2016 als „Technischer Leiter für öffentliche Bauvorhaben“ bei der Gemeinde Copertino tätig war. Mit einem Schreiben an die Gemeinde vom 24. März 2016 schied der Beschäftigte auf eigenen Wunsch aus dem Dienst aus, um ab dem 1. Oktober 2016 vorzeitig in den Ruhestand einzutreten. Er verlangte die finanzielle Vergütung für 79 Tage bezahlten Jahresurlaub, den er während seiner Beschäftigung nicht genommen hatte. Die Gemeinde Copertino lehnte dies jedoch mit der Begründung ab, der Arbeitnehmer sei sich seiner Verpflichtung, den Resturlaub zu nehmen, bewusst gewesen, so dass eine Abgeltung nicht möglich sei. Sie berief sich dabei auf eine Regelung im italienischen Recht, wonach Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinen Anspruch auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub haben. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn der Arbeitnehmer die Gründe dafür, dass er den Urlaub nicht in Anspruch genommen hat, nicht zu vertreten hatte, beispielsweise wegen Krankheit (Schlussanträge der Generalanwältin, Rechtssache C-218/22).
Zweifel an der Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie
Das zuständige Gericht in Lecce hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser italienischen Regelung mit der Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) und legte die Rechtsfrage daher dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. Konkret soll geklärt werden, ob die Arbeitszeitrichtlinie eine solche nationale Regelung verbietet und falls nicht, wer die Beweislast dafür trägt, nachzuweisen, dass der Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Die Arbeitszeitrichtlinie trat 2004 in Kraft und regelt die Arbeitszeitgestaltung innerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes.
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In ihren Schlussanträgen betonte die Generalanwältin, dass die finanzielle Vergütung nicht als eigenständiges Recht angesehen werden kann, das Arbeitnehmern durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährt wird. Ein Anspruch auf finanzielle Abgeltung des Urlaubs bestehe nur, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird. Mitgliedstaaten dürften jedoch Bedingungen festlegen, um darauf hinzuwirken, dass der Jahresurlaub tatsächlich genommen wird. Dieser Vorrang der tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs vor dessen Abgeltung sei gerechtfertigt, da der Zweck des Jahresurlaubs darin bestehe, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Die tatsächliche Ausübung bezahlten Jahresurlaub sei für Arbeitnehmer ein wichtiges Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung der geistigen und körperlichen Energie.
Insgesamt stehe die Arbeitszeitrichtlinie dem Wegfall nicht genommenen Jahresurlaubs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht immer im Wege. Wenn der Arbeitnehmer seinen bezahlten Jahresurlaub aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Konsequenzen nicht genommen hat, obwohl er dazu in der Lage war, erlaubt es die Richtlinie, dass dieser Anspruch und die entsprechende finanzielle Vergütung entfallen. Die Förderung der tatsächlichen Inanspruchnahme des Urlaubs anstelle der Abgeltung, sei daher zulässig.
Festlegung von Voraussetzungen für das Abgeltungsverbot
Die Arbeitszeitrichtlinie stehe einer nationalen Regelung, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abgeltung des nicht genommenen Jahresurlaubs untersagt zumindest dann nicht entgegen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens dürfe sich das Abgeltungsverbot nicht auf den Urlaubsanspruch erstrecken, der im Bezugsjahr erworben wurde, in dem die Beendigung der Tätigkeit erfolgt. Zweitens müsse der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt haben, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Drittens müsse der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu angehalten haben, den Jahresurlaub zu nehmen. Zuletzt müsse der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mitgeteilt haben, dass nicht genommener bezahlter Jahresurlaub nicht angesammelt werden kann, um ihn bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell zu entschädigen.
Ob das italienische Recht in diesem Sinne ausgelegt werden könne und ob die genannten Voraussetzungen hier vorliegen, habe nun das vorlegende Gericht zu entscheiden, so die Generalanwältin. Wichtig ist außerdem, dass die Beweislast laut Generalanwältin beim Arbeitgeber liegt. Dieser müsse nachweisen, dass er den Arbeitnehmer dazu angehalten hat, den Urlaub zu nehmen und dass eine finanzielle Abgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich sein werde und dass der Arbeitnehmer dennoch freiwillig auf den Jahresurlaub verzichtet hat.
Auswirkungen auf nationales Recht
Die Schlussanträge der Generalanwältin sind für den Gerichtshof nicht bindend, sondern stellen lediglich einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache dar. Die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Nach Verkündung des Urteils durch den EuGH ist dieses für alle Gerichte in der EU bindend, sodass nationale Gesetze und Gerichtsurteile der Rechtsprechung des EuGH angepasst werden müssen. Auswirkungen des Urteils auf das deutsche Recht, z.B. auf das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG), sind möglich. In welcher konkreten Form, bleibt jedoch noch abzuwarten.
ezo