Wird ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber nicht in die Lage versetzt seinen Jahresurlaub rechtzeitig zu nehmen, unterliegt sein Urlaubsanspruch nicht der Regelverjährungsfrist von drei Jahren. Nicht genommene Urlaubstage verfallen also nicht automatisch, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Dies entschied nun der Europäische Gerichtshof (EuGH).
Bereits 2018 hat der EuGH entschieden (EuGH Urt. v. 6.11.2018, Rs. C-684/16, C-619/16), dass die Regelung des § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz (BurlG), wonach der Urlaub des Arbeitnehmers verfällt wenn dieser seinen Urlaub nicht im laufenden Kalenderjahr oder ausnahmsweise spätestens innerhalb der ersten drei Monate des Folgejahrs genommen hat, so nicht gelten könnte. Der Anspruch auf Erholungsurlaub verfalle entsprechenden Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers nur dann, wenn der Arbeitnehmer zuvor durch den Arbeitgeber über das Bestehen des Anspruchs, dessen Umfang und den Verfall zum Jahresende informiert wurde.
Unklar ist bislang, ob und wann nicht verfallener Urlaub verjährt. Nach deutschem Recht verjähren Urlaubsansprüche automatisch innerhalb von drei Jahren (§§ 194 Abs. 1, 195 BGB). Laut EuGH sei diese Verjährungsfrist zwar unionsrechtskonform. Allerdings solle sie erst dann beginnen zu laufen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf seine (Rest-) Urlaubsansprüche und ihren drohenden Verfall hingewiesen hat (EuGH, Urt. v. 22.09.2022, Rs. C-120/21).
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Bisheriger Verfahrensgang
Nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses forderte eine Steuerfachangestellte eine finanzielle Vergütung für ihren nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zwischen 2013 und 2017. Grund für dieses „Versäumnis“ war, laut Arbeitnehmerin, der sehr hohe Arbeitsaufwand gewesen. Nachdem der Arbeitgeber eine Abgeltung verweigert hatte, erhob die Arbeitnehmerin Klage, der im ersten Rechtszug – wegen vermeintlicher Verjährung des Anspruchs – nur für drei Tage im Jahr 2017 stattgegeben wurde (Arbeitsgericht Solingen, Urt. v. 19.02.2019, Az. 3 Ca 155/18). Im Rahmen der Berufung der Arbeitnehmerin, gab ihr das Landesarbeitsgericht Düsseldorf Recht und nahm einen Abgeltungsanspruch weiterer 76 Tage an (LAG Düsseldorf, Urt. v. 02.02.2020, Az. 10 Sa 180/19). Die Revision des Arbeitgebers wurde vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt, welches das Verfahren aussetzte und die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte (Vorlagebeschluss v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20 [A]). Dieser sollte darüber entscheiden, ob das Unionsrecht die Verjährung von Urlaubsansprüchen gestatte, auch wenn der Arbeitgeber seinen Hinweispflichten nicht nachgekommen war.
Die Kernproblematik
Arbeitgeber haben ihre Arbeitnehmer grundsätzlich auf den drohenden Verfall ihrer Urlaubsansprüche hinzuweisen. Eine von der Mitwirkung des Arbeitgebers unabhängige Verjährung der Ansprüche nach drei Jahren, würde die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) insgesamt erschweren. Der Arbeitgeber würde seine „Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten“ umgehen und davon sogar noch (finanziell) profitieren können. Außerdem würde dadurch ein Verhalten gebilligt werden, welches dem Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft.
Laut EuGH seien die Regelungen zum Fristbeginn daher unionsrechtskonform so auszulegen, dass die Frist erst dann zu laufen beginnt, wenn der Arbeitgeber einen entsprechenden Hinweis getätigt habe.
Es sei zwar richtig, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran habe, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, wenn diese auf Ansprüche gestützt werden, die im Zeitpunkt der Antragstellung schon vor mehr als drei Jahren entstanden sind. Dieses Interesse sei jedoch dann nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber sich selbst in diese Situation gebracht habe, indem er den Arbeitnehmer im Voraus gar nicht erst in die Lage versetzt habe, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrnehmen zu können.
Weitere Konstellation: krankheitsbedingter Verfall
In der Rechtssache KHS hatte der EuGH es den Mitgliedstaaten ermöglicht, bei arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmern einen maximalen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorzusehen, um im Interesse der Arbeitgeber eine Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten zu vermeiden (EuGH Urt. v. 22.11.2011, Rs. C-214/10). In der Entscheidung King, in der ein britischer Arbeitgeber seinen Mitarbeiter für selbständig hielt und mithin dessen Urlaubsanspruch ablehnte, machte der Gerichtshof jedoch deutlich, dass es sich bei der Begrenzung um eine bloße Ausnahme vom Grundsatz handele, dass Urlaubsansprüche nicht verfielen. Eine derartige Ausnahme sei nicht gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaubsanspruch auszuüben (EuGH, Urt. v. 29.11.2017, Rs. C-214/16).
Zwei weitere Entscheidungen des EuGH zeigen, dass die Anwendung der 15-Monats-Grenze auf Fälle unterbliebener Mitwirkung von vornherein ausscheidet. Trete die Arbeitsunfähigkeit im laufenden Urlaubsjahr ein, sollen die Urlaubsansprüche auch hier nur verfallen, wenn der Arbeitgeber den kranken Arbeitnehmer zuvor über ihren Bestand oder ihren drohenden Verfall unterrichtet habe (Urt. v. 22.09.2022, Az. C-518/20 und C-727/70).
Allerdings ist hier zu beachten, dass im Falle einer langen Krankheit des Arbeitnehmers der Verfall des Jahresurlaubs im Einzelfall gerechtfertigt sein kann. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn „besondere Umstände“ vorliegen, die die Gefahr einer Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen bergen und dadurch Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation mit sich bringen. In den vorliegenden Fällen sei dies jedoch nicht der Fall gewesen.
Gleichlauf von Mindest- und vertraglichem Mehrurlaub
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) wendet die Mitwirkungsobliegenheiten grundsätzlich auch auf die vertraglich und tarifvertraglich vereinbarten Mehrurlaubsansprüche an. Abweichende Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des vertraglichen Mehrurlaubs sowie Verfallsregelungen (z.B. ein Verfall der Ansprüche zum Jahresende) können von den Parteien abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt werden. Soweit aber gesetzlicher und vertraglicher Urlaubsanspruch nicht getrennt ausgewiesen sind, sondern pauschal eine bestimmte Dauer angegeben wird („Der Urlaub beträgt 30 Arbeitstage je Kalenderjahr“), ist eine einheitliche Handhabung bereits aufgrund der Transparenzkontrolle des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB geboten. Der grundsätzliche Gleichlauf zum gesetzlichen Urlaubsanspruch besteht auch für tarifvertraglichen Zusatzurlaub. Mithin müssen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer auch zur Beantragung des übergesetzlichen Urlaubs auffordern und über den drohenden Verfall zum Jahresende informieren. In Neuverträgen steht es den Arbeitsvertrags- und Tarifparteien hingegen frei, einen von den europarechtlichen Vorgaben und dem BurlG abweichenden und von der Mitwirkung des Arbeitgebers unabhängigen Verfalls des Mehrurlaubs zu vereinbaren.
Bedeutung für die Praxis
Zunächst ist abzuwarten, wie das BAG die Vorgaben des EuGHs im konkreten Fall umsetzt. Wie ausführlich die Informierung der Arbeitnehmer erfolgen soll und wer die Darlegungs- und Beweislast der bestehenden Urlaubsansprüche oder einer entsprechenden Unterrichtung trägt, sind beispielweise Themen, die noch geklärt werden müssen.
Arbeitgebern ist jedoch schon jetzt zu empfehlen bereits zu Beginn des Jahres so konkret wie möglich ihre „Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten“ zu erfüllenund zum Beispiel langzeiterkrankten Arbeitnehmern spätestens bei Wiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit entsprechende Hinweise zu geben. Jedenfalls leitet das BAG aus den Vorgaben des EuGH insgesamt drei Kernanforderungen her, die eine Mitteilung des Arbeitgebers enthalten muss: Erstens die Information über die Anzahl der dem Arbeitnehmer zustehenden Urlaubstage; zweitens die Aufforderung, den Urlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er noch im laufenden Urlaubsjahr genommen werden kann; drittens den Hinweis, dass der Urlaub ersatzlos entfallen wird, wenn er nicht innerhalb des Bezugszeitraums genommen wird.
Insgesamt ist der EuGH mit diesen insgesamt drei Entscheidungen vom 22.09.2022 einen weiteren großen Schritt in Richtung der Stärkung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegangen. Nach wie vor soll der Anspruch auf Erholungsurlaub als „wesentlicher Grundsatz des Sozialrechts der Union zwingenden Charakter“ (EuGH, Urt. v. 06.11.2018, Az. C-684/16) genießen.
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