Bei Kündigungen ist die Berücksichtigung des Alters sehr genau abzuwägen. Dass dabei auch die Rentennähe eine Rolle spielen kann, hat das BAG jetzt entschieden.

Bei betriebsbedingt ausgesprochenen Kündigungen kann im Rahmen der Sozialauswahl eine Rentenbezugsnähe des Arbeitnehmers zu seinen Lasten berücksichtigt werden. Das selbige gilt, wenn der Arbeitnehmer bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das hat das BAG in Erfurt nun mit Urteil vom 30. November 2022 entschieden (Urteil vom 08.12.2022, Az. 6 AZR 31/22).

Geklagt hatte eine im Jahr 1957 geborene Frau, die seit 1972 bei der inzwischen insolventen Arbeitgeberin beschäftigt war. Mit Schreiben vom 27. März 2020 wurde der Klägerin durch den beklagten Insolvenzverwalter zum 30. Juni 2020 gekündigt.

Grundlage hierfür war ein zwischen dem Beklagten und dem Betriebsrat geschlossener Interessensausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der insgesamt 396 beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorsah. Auch der Name der Klägerin befand sich auf dieser Liste, da nach Ansicht des Beklagten die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzwürdig sei (§ 1 Abs. 3 S. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG), § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Insolvenzordnung (InsO)). Sie habe nach dem Vortrag des Beklagten als einzige Mitarbeiterin die Möglichkeit gehabt, ab dem 01. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen. Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat und nunmehr beabsichtigter Stilllegung des Betriebs kündigte der beklagte Insolvenzverwalter der Klägerin vorsorglich erneut zum 30. September 2020. Die Klägerin hielt beide Kündigungen – aufgrund ihrer Meinung nach fehlerhafter Sozialauswahl – für unwirksam und erhob hiergegen vor dem Arbeitsgericht Dortmund Kündigungsschutzklage.

Vorinstanzen geben der Klägerin Recht

Das Arbeitsgericht Dortmund hat mit Urteil vom 03. September 2022 beiden Kündigungsschutzanträgen der Klägerin stattgegeben (ArbG Dortmund, Az.: 10 CA 1380/20). Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten wies das Landesarbeitsgericht Hamm mit Urteil vom 03. September 2021 (16 Sa 152/21) zurück und nahm hierbei vor allem auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 2017 (BAG, Urteil vom 27.04.2017 – 2 AZR 67/16) Bezug, wonach ein regelaltersrentenberechtigter Arbeitnehmer im Rahmen einer Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hinsichtlich des Kriteriums „Lebensalter“ deutlich weniger schutzbedürftig sei als ein(e) Arbeitnehmer(in), der/die noch keine Altersrente beanspruchen kann. Diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu regelaltersrentenberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sei allerdings nicht – wie im Fall der Klägerin – auf „nur rentennahe“ Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übertragbar.

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Revision vor dem Bundesarbeitsgericht hat teilweise Erfolg

Die Revision des Beklagten vor dem BAG ergab ein teilweise anderes Ergebnis (Az. 6 AZR 32/22). Zwar befand der Senat die erste Kündigung im Ergebnis ebenfalls für unwirksam. Allerdings durfte die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl sehr wohl berücksichtigt werden, da das Auswahlkriterium des Lebensalters ambivalent sei.

Die Erfurter Richter und Richterinnen führten hierzu aus, dass die soziale Schutzbedürftigkeit zwar zunächst mit steigendem Lebensalter zunehme, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Diese Schutzbedürftigkeit falle aber dann wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Das BAG billigt Arbeitgebern damit im Rahmen von § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu, welcher dazu führen kann, dass das Auswahlkriterium des Lebensalters zum Nachteil eines Arbeitnehmers berücksichtigt werden kann. Ausgenommen sie hiervon lediglich die Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI).

Die Kündigung vom 27. März 2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin allein aufgrund ihrer Rentennähe erfolgte und die weiteren Auswahlkriterien innerhalb der Sozialauswahl von der Beklagten außer Acht gelassen wurden. Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hatte die Revision des beklagten Insolvenzverwalters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung sei wirksam und habe das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30. September 2020 aufgelöst, so das BAG.

Was bedeutet die Entscheidung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zukünftig?

Das BAG erweitert mit seinem Urteil vom 30. November 2022 seine bisherige Rechtsprechung zum Auswahlkriterium des Lebensalters im Rahmen der Sozialauswahl. Die zeitliche Nähe eines Arbeitnehmers zum Bezug der Altersrente kann fortan bei der Sozialauswahl zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden. Den Zeitraum der „zeitlichen Nähe“ hat das BAG in seiner Entscheidung hierbei genau („spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses“) definiert, was für Rechtssicherheit in der Anwendung sorgt.

Arbeitgebern wird hiermit ein weiteres, entscheidungserhebliches Kriterium bei der Sozialauswahl vorgegeben, welches es zu berücksichtigen gilt. Nunmehr ist bei betriebsbedingten Kündigungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch zu prüfen, ob selbige bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits eine Altersrente beziehen bzw. beziehen können oder ob sie dies spätestens innerhalb der nächsten zwei Jahre nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses tun können. Allerdings zeigt die Entscheidung des BAG auch, dass die Sozialauswahl durch die Arbeitgeber nicht ausschließlich am Merkmal der Rentennähe orientiert werden darf. Auch die weiteren Auswahlkriterien wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die Unterhaltspflichten sowie eine eventuelle Schwerbehinderung des Arbeitnehmers sind ausreichend zu berücksichtigen.

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