Die Vorratsdatenspeicherung ist seit Jahren eines der umstrittensten politischen Themen in Deutschland und Europa. Nun hat der EuGH dazu im Bezug auf einen irischen Mordfall entschieden. Nach Ansicht des Luxemburger Gerichts darf eine allgemeine, unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung in der EU nicht einmal zur Bekämpfung von schweren Straftaten wie Mord stattfinden. Das von der Ampelkoalition anvisierte „Quick Freeze“-Verfahren könnte aber eine Lösung sein.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat erneut ein Urteil zur Vorratsdatenspeicherung gefällt: In einem irischen Fall entschied er, dass nationale Vorschriften, die präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten der elektronischen Kommunikation vorsehen, um schwere Kriminalität zu bekämpfen, unionsrechtswidrig seien (Urt. v. 05.04.2022, Rechtssache C-140/20).
Damit bleibt der EuGH seiner bisherigen Linie zur Vorratsdatenspeicherung treu und bezieht sich selbst auch ausdrücklich auf vergangene Urteile, darunter die Grundsatzentscheidung zur Vorratsdatenspeicherung aus 2016 (Urt. v. 21.12.2016, Rechtssachen C-203/15 u. C-698/15).
Ein Urteil zum deutschen Gesetz zur „Mindestspeicherpflicht und Höchstspeicherdauer von Verkehrsdaten“, das seit 2017 ausgesetzt ist, steht nach wie vor aus. Das neue europäische Urteil lässt es allerdings wahrscheinlich erscheinen, dass auch das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht vom EuGH akzeptiert werden wird.
Derzeit liegt dem EuGH außerdem noch ein drittes, französisches Vorabentscheidungsverfahren zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung vor. In allen drei Verfahren geht es um die anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetdaten über einen längeren Zeitraum. Die verschiedenen Mitgliedstaaten plädieren dafür, dass Internetanbieter diese Daten für staatliche Behörden für eine gewisse Dauer Verfügbar halten müssen, damit diese beispielsweise zum Zwecke der Strafverfolgung darauf zurückgreifen können.
Irisches Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung
Anlass für die EuGH-Entscheidung war ein Mordfall aus Irland: Im März 2015 wurde ein Ire wegen Mordes an einer Frau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In der gegen seine Verurteilung eingelegten Berufung warf der Verurteilte dem erstinstanzlichen Gericht vor, es habe zu Unrecht Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit Telefonanrufen als Beweismittel zugelassen.
Um im Rahmen des Strafverfahrens die Zulässigkeit dieser Beweise in Abrede stellen zu können, leitete er parallel beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) ein Zivilverfahren ein. Sein Ziel war es, die Ungültigkeit bestimmter Vorschriften des irischen Gesetzes von 2011 über die Speicherung von Vorratsdaten feststellen zu lassen. Er war der Ansicht, dieses Gesetz verletze seine Rechte aus dem Unionsrecht. Mit Entscheidung vom 6. Dezember 2018 gab der High Court dem Vorbringen statt.
Der Staat Irland legte gegen diese Entscheidung allerdings ein Rechtsmittel beim Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) ein. Der irische Supreme Court legte die Frage nach der Vereinbarkeit vom irischen Recht mit dem europäischen Datenschutzrecht sodann dem EuGH vor.
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Datenspeicherung darf nicht anlasslos sein
In seinem Urteil befasst sich der EuGH insbesondere mit der Verhältnismäßigkeit der Vorratsspeicherung. Er weist nochmal darauf hin, dass sowohl der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, des Lebens und das Verbot von Folter wichtig sind und die Mitgliedsstaaten Maßnahmen zum Schutz dieser Interessen vornehmen können und müssen. Jedoch müssten die Maßnahmen stets im Einklang mit weiteren grundrechtlichen Interessen stehen, wie dem Schutz des Privat- und Familienlebens und der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Kommunikation.
In der Abwägung könne die Bekämpfung von schwerer Kriminalität aber keine unterschiedslose und allgemeine Vorratsspeicherung von Daten aus elektronischer Kommunikation rechtfertigen. Das begründet der EuGH damit, dass bei der anlasslosen Speicherung die Grundrechte fast der gesamten Bevölkerung eines Staats betroffen wären. Die meisten der dann gespeicherten Daten würden aber nicht einmal mittelbar mit dem verfolgten Ziel der Kriminalitätsbekämpfung in Verbindung stehen.
Weiterhin stellt der EuGH in diesem Zuge klar, dass schwere Kriminalität wie Mordfälle nicht einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgestellt werden könnten. Nur eine reale und aktuelle Bedrohung der nationalen Sicherheit könne nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für einen begrenzten Zeitraum eine allgemeine Vorratsdatenspeicherung ermöglichen. Allerdings sei eine solche Bedrohung erst anzunehmen, wenn sie die Schwere von allgemeinen und ständigen Gefahren für die Öffentlichkeit oder schlimmer Straftaten erheblich übersteige.
„Quick Freeze“ bleibt Möglichkeit
Der EuGH nimmt den irischen Fall zum Anlass, um weitere grundlegende Fragen zur Vorratsspeicherung zu beantworten. Dabei zeigt sich, dass den Richtern vor allem die allgemeine und anlasslose Speicherung ein Dorn im Auge ist. Kommen aber konkrete Anlässe oder weitere Eingrenzungen hinzu, könne eine Speicherung durchaus mit dem Unionsrecht vereinbar sein. So hält es der Gerichtshof in Luxemburg für möglich, Daten gezielt zu speichern, wenn sie durch Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geographischen Kriteriums eingegrenzt werden. Die Datenspeicherung könnte zudem in Bezug auf Orte stattfinden, die regelmäßig von einer hohen Anzahl von Personen besucht werden, wie Flughäfen oder Bahnhöfe.
Das 2015 verabschiedete und seit langem ausgesetzte deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung könnte nach diesem Urteil bald ebenfalls eine klare Absage durch den EuGH erfahren – hier wird wohl ebenfalls noch in diesem Jahr eine Entscheidung kommen (Az. C-793/19 – BRD/SpaceNet AG). Das deutsche Gesetz sieht zwar eine im Verhältnis zu anderen EU-Staaten nur eine kurze Speicherfrist von nur 10 Wochen vor. Doch für diese Zeit sollen alle Verkehrs- und Standortdaten unterschieds- und anlasslos von allen Bürgern erfasst werden. Der Generalanwalt am EuGH Campos Sánchez-Bordona kritisierte in seinen Schlussanträgen vom 18. November 2021 zudem, dass nach dem deutschen Gesetz eine zu große Vielzahl an Daten gespeichert werden würde.
Ausdrücklich erwähnt der EuGH nun aber das sog. „Quick Freeze“-Verfahren als Möglichkeit, wie eine Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung von Kriminalität stattfinden könnte. Die regierende Ampelkoalition möchte zukünftig darauf setzen. Nach diesem Verfahren werden für einen bestimmten Zeitraum zwar auch viele Daten von vielen Bürgern gespeichert. Jedoch nur, nachdem ein Anfangsverdacht für schwere Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit vorliegt. Strafverfolgungsbehörden könnten demnach Telekommunikationsunternehmen in dringenden Fällen zur Speicherung anhalten – die Daten werden also kurzzeitig eingefroren, daher der Begriff „Quick Freez“. Erhält die Behörde dann aber nicht oder nicht rechtzeitig einen richterlichen Beschluss, dass es tatsächlich genügenden Anlass zur Speicherung und Verwertung der Daten gibt, werden die Daten umgehend wieder gelöscht, bevor sie von den Ermittlern verwendet werden können.
ses