Kaum in einer Zeit waren die Grundsätze der identifizierenden Verdachtsberichterstattung so relevant wie heute. Der BGH schärft in einer Entscheidung über eine Persönlichkeitsrechtsverletzung eines ausländischen Diplomaten erneut die konkreten Zulässigkeitsvoraussetzungen.
Eine identifizierende Verdachtsberichterstattung fordert einen Mindestbestand an Beweistatsachen, die für die Richtigkeit der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen. Eine Vorverurteilung darf nicht stattfinden. Die streitgegenständliche Berichterstattung des Spiegels und des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eines betroffenen Botschafters dar. Dem Botschafter steht insofern ein Unterlassungsanspruch zu (Bundesgerichtshof (BGH), Urt. v. 20.06.2023, Az. VI ZR 262/21).
In einer Berichterstattung des Spiegels aus dem Jahr 2018 mit der Überschrift „Wie die armenische Mafia in Deutschland vorgeht“ heißt es: „Armenische Mafiagruppen gelten als besonders brutal. Es ist ihnen gelungen, in Deutschland ein breites Netzwerk aufzubauen. Ihre Kontakte reichen in die Welt des Profiboxens und mutmaßlich in diplomatische Kreise.“ Der MDR berichtete ähnlich. Weiterhin wurde in der Berichterstattung über organisierte Kriminalität, wie in etwa Schleuseraktivitäten oder Geldwäsche, der damalige Botschafter der Republik Armenien in Deutschland namentlich genannt. Gegen diese Berichterstattung begehrte der Botschafter Unterlassung vor dem Landgericht (LG) Berlin.
Das erstinstanzliche Gericht (Urt. v. 04.06.2019, Az. 27 O 23/19) gab dem ehemaligen Botschafter vollumfänglich Recht und verurteilte den Spiegel und den MDR zur Unterlassung der Veröffentlichung der genannten Passagen in der Berichterstattung. Dagegen legten die beklagten Parteien Berufung vor dem Kammergericht Berlin ein. Das zweitinstanzliche Oberlandesgericht (Urt. v. 15.07.2021, Az. 10 U 68/19) änderte die Entscheidung teilweise ab und verneinte einen Unterlassungsanspruch bezüglich der Berichterstattung zu Schleuseraktivitäten und Geldwäsche.
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Revision beim BGH
Der Diplomat begehrte daraufhin in seiner Revision vor dem BGH die vollständige Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der BGH gab ihm Recht. Sämtliche streitgegenständlichen Äußerungen in der Berichterstattung seien eine unzulässige Verdachtsberichterstattung. Die Verdachtsäußerungen, der Diplomat habe strafbare Handlungen begangen und sei Teil der Mafia seines Heimatslandes gewesen, beeinträchtigten ihn in erheblichem Maße in seiner Ehre und sozialen Anerkennung. Dies stelle einen Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Botschafters dar.
Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung
In seinem Leitsatz stellt der BGH die Voraussetzungen lehrbuchmäßig dar: Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung sei jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen, erforderlich. Die Darstellung dürfe ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie dürfe also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch sei vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich müsse es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.
Strafrechtliches Ermittlungsverfahren begründet keinen Mindestbestand an Beweistatsachen
Diese Maßstäbe erfüllten die Berichterstattungen von Spiegel und dem MDR nicht. So befand das Gericht, dass sowohl der Spiegel als auch der MDR gegen ihre publizistischen Sorgfaltspflichten verstießen, indem sie Verdachtsäußerungen ohne ein Mindestmaß an Beweistatsachen veröffentlichten. Gerade bei einer besonderen Schwere des Vorwurfs seien die Medien angesichts des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die persönliche Ehre in besonderem Maße zu sorgfältigem Vorgehen verpflichtet. Dies sei hier nicht der Fall gewesen.
Weiterhin sei laut Gericht für ein Mindestbestand an Beweistatsachen nicht bereits ausreichend, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Denn allein der Umstand, dass über vergangene Ermittlungen wegen des Verdachts der Geldwäsche berichtet wird, berge die Gefahr, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und trotz der späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt“.
jsc/ezo