Wie weit geht die Meinungsfreiheit? Das ist wohl die wichtigste Frage, wenn es um Hassrede im Netz geht. Nun hat das BVerfG im Fall von Grünen-Politikerin Renate Künast eine Entscheidung dazu getroffen. Der Beschluss wird große Auswirkungen haben, denn Social-Media-Plattformen werden nun wohl eher die Nutzerdaten von potenziellen Tätern herausgeben müssen. Damit ist dies eine wegweisende Entscheidung im Zeitalter von sozialen Medien.
„Gehirn Amputiert“, „Pädophilen-Trulla“ oder „Die ist Geisteskrank“ – solche hetzerischen Äußerungen sammelten sich auf der Plattform Facebook zu Renate Künast. Diese forderte daraufhin eine gerichtliche Anordnung zur Auskunft über die personenbezogenen Daten der betroffenen Facebook-Nutzer. Bislang sträuben sich Betreiber sozialer Medien meist davor, Daten von Hetzern herauszugeben.
Auch das Landgericht (LG) und dem Kammergericht (KG) Berlin gaben dem Auskunftsersuchen in den meisten Fällen nicht statt (LG, Beschlüsse v. 09.09.2019 und 21.01.2020, Az. 27 AR 17/18; KG, Beschlüsse v. 11.03.2020 und 06.04.2020, Az. 10 W 13/20). Insbesondere die Entscheidung des LG sorgte dabei bundesweit für Empörung. Denn dieses Gericht stufte unter anderem „Stück Scheiße“ und „Pädophilen-Trulla“ nicht als Beleidigung ein. Das KG gab später zumindest dem Auskunftsanspruch gegenüber ein paar der Profile statt. Aber auch dieses Gericht sah keinen Anspruch bezüglich der Nutzer, die Sachen wie „Gehirn Amputiert“ oder „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“ schrieben.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe gab nun aber einer Verfassungsbeschwerde Künasts gegen die Entscheidungen der Vorinstanzen statt. Somit muss Facebook wahrscheinlich alle Nutzerdaten der beschimpfenden Nutzer herausgeben. Damit revolutioniert das BVerfG die Rechtslage zu Hatespeech in den sozialen Medien. Bisher scheitern fast alle zivilrechtlichen Ansprüche daran, dass sich die Hetzer hinter Pseudonymen verstecken und somit für die Opfer nicht identifizierbar sind.
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Nach Auffassung unserer Verfassungsrichter haben die Vorinstanzen das Persönlichkeitsrecht der Politikerin verletzt, indem sie dieses nicht ausreichend berücksichtigt haben. Die Beschlüsse des KG Berlin wurden deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit an das Gericht zurückverwiesen (Beschluss v. 19.12.2021, Az. 1 BvR 1073/20).
KG: „Hinreichender Bezug zur Sachdebatte“
Das KG Berlin hatte die umstrittenen Äußerungen in seiner nun aufgehobenen Entscheidung weithin als zulässigen „öffentlichen Meinungskampf“ eingestuft, der ausreichend Bezug zur Sachdebatte aufweisen würde. Die Äußerungen seien ungehörig, überzogen, respekt- und distanzlos; der Bezug zu einer Sachauseinandersetzung werde aber nicht deshalb komplett aufgehoben, weil er mit schlechtem Benehmen einhergehe. Deshalb ordnete das Gericht in den meisten Fällen keine Auskunftspflicht nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz (in der vom 18.07.2019 bis 26.11.2020 gültigen Fassung; nunmehr § 21 Abs. 2 und 3 des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes (TTDSG)) an.
Hintergrund der hetzerischen Äußerungen war die im Jahr 2015 noch einmal aufgekommene Debatte über die Haltung der Grünen-Partei zur Pädophilie in den 1980er Jahren. So berichtete etwa die Zeitung DIE WELT am 24.05.2015 über einen Zwischenruf Künasts während einer Debatte zur Aufarbeitung der Haltung des Landesverbandes Berlin von Bündnis90/Die Grünen zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 29.05.1986. Während eine Abgeordnete der Grünen über häusliche Gewalt sprach, stellte ein Abgeordneter der Regierungskoalition die Zwischenfrage, wie die Rednerin denn zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. Anstelle der Rednerin rief laut Protokoll des Abgeordnetenhauses Renate Künast: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“
Die Richter des Kammergerichts waren deshalb zu der Entscheidung gekommen, dass einige Äußerungen zwar drastisch, aber eingebettet in den Kontext der Pädophilie-Debatte von der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Var. 1 Grundgesetz gedeckt seien. Schließlich sei der Zwischenruf Renate Künasts seinerseits auch interpretationsbedürftig gewesen. Diese Entscheidung hatte nun aber keinen Bestand.
BVerfG: Meinungsfreiheit geht nicht immer vor
In der Entscheidung des KG sah das BVerfG eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts Künasts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Ihre Verfassungsbeschwerde gegen die zivilgerichtlichen Urteile sei offensichtlich begründet. Denn die Gerichte hätten keine ausreichende Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht vorgenommen.
Grundsätzlich erfordere die Feststellung, ob eine Äußerung eine Beleidigung nach § 185 Strafgesetzbuch (StGB) darstellt, eine Abwägung dieser betroffenen Rechtsgüter. Eine Abwägung sei nur entbehrlich, wenn es sich um Schmähungen, Formalbeleidigungen oder Angriffe auf die Menschenwürde handele. In allen anderen Fällen, in denen eine Beleidigung also nicht ganz offenkundig vorliege, dürften Gerichte aber nicht von einem grundsätzlichen Vorrang der freien Meinungsäußerung gegenüber der persönlichen Ehre ausgehen.
Bezüglich der Gewichtung dieser Grundrechte stellte das BVerfG noch einmal klar, dass die Meinungsfreiheit umso höher wiege, je mehr der Beitrag auf die öffentliche Meinungsbildung abstelle. Es bleibt also bei dem Grundsatz, dass Personen der Öffentlichkeit sich meist „mehr“ gefallen lassen müssen. Das könne aber nicht jede persönliche Beschimpfung von Politikern und Amtsträgern rechtfertigen. Wenn die Verächtlichmachung oder Hetze auf die Person abzielt und dies auch noch öffentlich geschieht, setze die Verfassung äußerungsrechtliche Grenzen. Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger seien von diesem Schutz nicht ausgenommen. Insbesondere wenn die Beschimpfungen auf sozialen Medien stattfänden und dadurch das öffentliche Interesse betroffen ist, könne der Schutz des Persönlichkeitsrechts schwerer wiegen.
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Laut BVerfG findet sich zur Grundrechtsabwägung eine grundlegendes Fehlverständnis in der Entscheidung des KG. Das Kammergericht gehe unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon aus, dass eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vorliege, wenn die streitgegenständliche Äußerung „lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung“ zu verstehen sei. Das KG nahm an, eine strafrechtliche Relevanz erreiche eine Äußerung erst dann, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine. Dabei lege es aber wiederholt einen fehlerhaften, mit dem Persönlichkeitsrecht unvereinbaren Maßstab an, so das BVerfG. Bezüglich der umstrittenen Äußerungen habe das Gericht zwar noch angedeutet, dass eine Abwägung stattfinden müsse, diese aber nicht vorgenommen. Dadurch lasse es das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht weitgehend außer Acht, wodurch dieses verletzt werde.
Auswirkungen der Entscheidung
Das BVerfG hat die Sache nun an das KG zurückverwiesen, da es selbst ausschließlich Grundrechtsverletzungen und keine zivilrechtlichen Auskunftsansprüche prüfen kann. Das BVerfG geht allerdings ausdrücklich davon aus, dass das Gericht zukünftig zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen könnte. Den Ausführungen nach sind die Verfassungsrichter wohl der Auffassung, nach einer Abwägung der Grundrechte müsse der Auskunftsanspruch von Renate Künast gegen Facebook bestehen. Denn die Beschimpfungen verletzten sie in ihrer persönlichen Ehre und könnten deshalb nicht mehr von der Meinungsfreiheit geschützt werden.
Wenn den Auskunftsansprüchen von Renate Künast vollumfänglich stattgegeben werden sollte, könnte dies auch zukünftig Auskunftsansprüche gegen Internetplattformen vereinfachen. Gemäß § 21 Abs. 2 und 3 TTDSG müssen Betroffene von Hetze im Netz die Anordnung über Auskunftserteilung stets gerichtlich beantragen. Nach diesem verfassungsgerichtlichen Urteil könnten sich die Gerichte zukünftig dazu angehalten sehen, das Persönlichkeitsrecht stärker zu beachten und mehr Anträgen stattzugeben.
ses