Ein Zahnarzt aus Köln stand vor Gericht, weil er Elektrogeräte in Millionenhöhe bestellt, aber nicht bezahlt und anschließend auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft hatte. „Bild.de“ berichtete unter dem Titel „Kölner Zahnarzt ein Millionenbetrüger?“ über das Verfahren. Dabei nannte die Online-Zeitung den Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens, das Alter und die Lage der Praxis des Angeklagten. Dieser fühlte sich dadurch in seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt und verklagte die BILD-Zeitung auf Unterlassung. Die Berichterstattung geht jedoch in Ordnung, entschied jetzt der BGH.
Bei der Berichterstattung über eine laufende Hauptverhandlung muss dem Angeklagten keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit jetzt veröffentlichtem Urteil entschieden (Urt. v. 31.05.2022, Az. VI ZR 95/21).
„Kölner Zahnarzt ein Millionenbetrüger?“ titelte bild.de am 28.02.2018. Im so überschriebenen Artikel berichtete der Autor über den ersten Tag der Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen einen Kölner Zahnarzt. Diesem wurde wegen Betrugs, Nötigung, Vortäuschung einer Straftat und Steuerhinterziehung der Prozess gemacht. Eingeleitet wurde der Bericht mit den Worten: „Er betreibt eine schöne Praxis in der Kölner Innenstadt, doch das reichte dem Zahnarzt Dr. Christian P. (39) laut Staatsanwalt nicht aus. Gemeinsam mit Komplizen kaufte er demnach über eine Briefkastenfirma für insgesamt 2,3 Millionen Euro Elektronikgeräte ein, ohne sie zu bezahlen – um sie dann weiterzuverkaufen.“ Es folgte eine Schilderung der der Anklage zu Grunde liegenden Vorwürfe. So sollte der Zahnarzt gemeinsam mit seinem Vater eine Briefkastenfirma gegründet haben, über welche elektronische Geräte eingekauft, aber nicht bezahlt und anschließend auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft wurden. Darüber hinaus wurde dem Zahnarzt vorgeworfen, einen Einbruch in seine Firma vorgetäuscht zu haben, um von seiner Versicherung 122.000 Euro zu kassieren.
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Zahnarzt will nicht identifiziert werden
Der Prozess, der Gegenstand der Berichterstattung war, endete später mit einer Verurteilung des Zahnarztes wegen Betrugs, Nötigung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Gleichwohl sah sich der Zahnarzt durch die Berichterstattung von bild.de in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, da er durch die Nennung seines Vornamens sowie des ersten Buchstabens seines Nachnamens in Kombination mit der Lage seiner Praxis und seinem Lebensalter identifizierbar sei. Er verklagte die BILD-Zeitung daher auf Unterlassung der Berichterstattung über das Strafverfahren unter Nutzung einer Beschreibung seiner Person, die ihn identifizierbar macht. Sowohl vor dem Landgericht (LG) als auch vor dem Oberlandesgericht (OLG) hatte er mit diesem Ansinnen zumindest teilweise Erfolg. Die BILD-Zeitung legte Revision ein – und gewann.
Der BGH hatte an der Berichterstattung von bild.de in keinerlei Hinsicht etwas auszusetzen. Zwar stellt die Berichterstattung von bild.de nach Auffassung der Richter einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Zahnarztes dar. Dieser Eingriff sei indes nur rechtswidrig, wenn das Interesse des Arztes am Schutz seiner Persönlichkeit das Informationsinteresse der Allgemeinheit und die Pressefreiheit überwiege. Das sei jedoch nicht der Fall.
Kein Recht auf Geheimhaltung begangener Straftaten
Zur Begründung wiederholten die Richter zunächst ihre seit 2021 etablierte Rechtsprechung zur sogenannten Verdachtsberichterstattung:
Es sei legitime Aufgabe der Presse, Verfehlungen – auch konkreter Personen – aufzuzeigen. Wahre Tatsachenbehauptungen müssten dabei in der Regel hingenommen werden. Dies gelte insbesondere bei kriminellem Verhalten. Es gäbe kein Recht darauf, Straftaten begehen zu können, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Die Richter stellte erneut klar, dass bei der Berichterstattung über laufende Strafverfahren allerdings auch die Unschuldsvermutung zu berücksichtigen sei: Da sich stets erst im Laufe des Verfahrens klärt, ob die Tatvorwürfe tatsächlich zutreffen, ist nach Auffassung der Richter eine gewisse Zurückhaltung bei der identifizierenden Berichterstattung geboten. Denn erfahrungsgemäß bleibe von einer Berichterstattung über angeklagte Straftaten in der Öffentlichkeit immer etwas „hängen“, auch wenn der Angeklagte am Ende freigesprochen werde.
Daher gilt: Berichtet werden darf nur über Vorgänge von gravierendem Gewicht, die ein Informationsinteresse der Allgemeinheit auslösen. Hierbei muss sich der Tatverdacht zumindest auf ein Mindestmaß an Beweisen stützen und darf weder vorverurteilend sein noch den Eindruck erwecken, die berichtgegenständlichen Straftaten seinen bereits erwiesen. Darüber hinaus ist vor der Veröffentlichung stets eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen.
Bezugnahme auf Anklage ausreichend
Diesen Grundsätzen genügte die Berichterstattung von bild.de nach Auffassung der Richter. Da der bild.de-Artikel ausdrücklich auf die Anklageschrift und das eröffnete Hauptverfahren Bezug nahm, sei dem Bedürfnis nach einem Mindestmaß an Beweistatsachen genügt. Denn ein Hauptverfahren werde gem. § 203 Strafprozessordnung (StPO) erst eröffnet, wenn die Tatbegehung hinreichend wahrscheinlich erscheine. Darüber hinaus werde durch diese Bezugnahme klar, dass der Angeklagte noch nicht verurteilt sei. Des weiteren stehe die durch die Berichterstattung hervorgerufene Beeinträchtigung des Klägers nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit. Zwar sei der Arzt keine prominente Persönlichkeit. Allerdings gehöre er der Berufsgruppe der Ärzte an, an deren Redlichkeit und Integrität die Öffentlichkeit ein besonderes Interesse habe. Zugleich seien die ihm vorgeworfenen Taten zum Teil gemeinschädlicher Natur und höben sich deutlich von gewöhnlicher Kriminalität ab.
Keine Stellungnahme des Arztes erforderlich
Darüber hinaus stellten die Richter einen neuen, von den allgemeinen Regeln abweichenden, Grundsatz für die Berichterstattung aus laufenden Strafverfahren heraus auf: So war es ihrer Ansicht nach nicht nötig, vor Veröffentlichung des Berichts eine Stellungnahme des Zahnarztes einzuholen. Denn anders als die übliche Verdachtsberichterstattung werde bei einem Report aus dem laufenden Hauptverfahren über ein Ereignis berichtet, das so tatsächlich stattgefunden habe und gem. § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) – insbesondere auch für die Presse – öffentlichen Charakter habe. Weiterhin sei das Einholen einer Stellungnahme mit Blick auf die Unschuldsvermutung sogar kontraproduktiv, wenn sich der Angeklagte nicht nur im Prozess, sondern parallel dazu auch noch gegen eine mögliche Vielzahl von Stellungnahmen verteidigen müsste.
BGH stärkt Pressefreiheit
In jüngerer Zeit ergingen gleich drei wichtige Leitsatzentscheidungen des BGH, in denen die Grenzen zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit konstruiert wurden. In den Verfahren ging es dabei immer wieder um die Frage, ob dem Betroffenen ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde. Während der BGH im November 2021 (Urt. v. 16.11.2021, Az. VI ZR 1241/20) die allgemeinen – oben dargestellten – Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung niederschrieb, schärfte er erst im Februar 2022 (Urt. v. 22.02.2022, Az. VI ZR 1175/20) in einem ebenfalls von der BILD-Zeitung angestrengten Verfahren die Anforderungen an die Gelegenheit zur Stellungnahme nach: Im konkreten Fall waren einem PR-Manager vom BILD-Journalisten am Freitagnachmittag weniger als fünf Stunden zur Stellungnahme eingeräumt worden. Jener hatte daraufhin mitgeteilt, die Frist nicht einhalten zu können, da er sich zunächst mit einem Strafverteidiger besprechen müsse. Er werde daher erst am Dienstag antworten. Die BILD wartete die Frist indes nicht ab, sondern veröffentlichte den Verdachtsbericht bereits am Sonntag. Der BGH stellte hier klar: Der Bitte um eine Fristverlängerung ist nicht zwingend stattzugeben; wohl aber ist dem Betroffenen mitzuteilen, dass seiner Bitte nicht genügt werden und bis zu welchem Zeitpunkt eine verspätete Stellungnahme noch berücksichtigt werden kann.
Das jetzige Urteil stärkt hingegen wieder die Pressefreiheit, indem es aufzeigt, dass das Einholen einer Stellungnahme unter gewissen Voraussetzungen entbehrlich sein kann. Darüber hinaus stellt es klar, dass die identifizierende Berichterstattung unter gewissen Voraussetzungen auch bei nicht prominenten Personen möglich ist.
So hilft Ihnen WBS
Die Pressefreiheit ist ein wichtiger Bestandteil des Grundgesetzes. Damit die Pressefreiheit als wichtiger Grundstein der Demokratie nicht durch andere Rechte unterlaufen wird, genießen Pressevertreter einige Sonderrechte gegenüber Privatpersonen. Doch die Rechte der Presse keinesfalls grenzenlos. Wird durch die Pressearbeit einer der Bereiche des Persönlichkeitsrechts verletzt, können unter anderem Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche entstehen. Sie möchten sich mit Ihrer journalistischen Arbeit auf der rechtssicheren Seite sehen? Die Anwälte der Kanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE stehen Ihnen mit einer umfassenden juristischen Beratung im Persönlichkeitsrecht gerne zur Seite. Rufen Sie einfach an für eine kostenlose Erstberatung: 0221 / 951 563 0 (Beratung bundesweit).