Das Bundesverfassungsgericht hat den umstrittenen Tweet von Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt nun gestattet. Wo das KG Berlin zuvor noch eine zulässige Meinungsäußerung verneinte, gab das BVerG der Verfassungsbeschwerde Reichelts nun statt. Ein Sieg vor dem höchsten deutschen Gericht und eine möglicherweise weitreichende Grundrechtsentscheidung in Sachen Staatskritik.

Julian Reichelt, Von © Superbass / CC BY-SA 4.0

Neben einem Beitrag in der hauseigenen News-Plattform „NiUS“ veröffentlichte Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt im August 2023 einen reißerischen Tweet mit dem Inhalt:

„Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro (!!!) Entwicklungshilfe an die Taliban (!!!!!!) Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?! “


Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) nahm daran Anstoß und klagte zunächst erfolglos vor dem Landgericht Berlin, siegte dann allerdings in zweiter Instanz vor dem Kammergericht (KG) Berlin. Laut dem KG Berlin hätte Reichelt habe mit dem Tweet den Eindruck erweckt, die Bundesregierung liefere direkte finanzielle Unterstützung an die islamistische Terrororganisation. Da das Geld allerdings nur an Hilfsorganisationen und NGOs gerichtet war, sei das eine unwahre Tatsachenbehauptung. Weil diese das Vertrauen in die Arbeit der Bundesregierung beschädigen konnte, empfand das Gericht sie als rechtswidrig. Hiergegen wendete sich Reichelt nun mit seiner Verfassungsbeschwerde.

Bei einer darauf gerichteten Urteilsverfassungsbeschwerde gab das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Reichelt nun jedoch Recht. Der Beschluss des KG verletze die in Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerte Meinungsfreiheit. Das KG habe „den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt“. Die Taliban-Aussage sei keine Tatsachenbehauptung, sondern eine Meinungsäußerung (Beschluss vom 11. April 2024, Az. 1 BvR 2290/23).

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Gegen die Meinungsfreiheit darf scharf geschossen werden

Das BVerfG stellte zunächst fest, dass der Staat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten habe. Der Staat werde nur dann vor verbalen Angriffen beschützt, wenn diese seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Das dürfe aber nicht so weit gehen, ihn von scharfer öffentlicher Kritik abzuschirmen. Schließlich stünde ihm im Gegenzug jederzeit die Möglichkeit offen, fehlerhafte Darstellung und diskriminierende Äußerungen zurückzuweisen. Die Meinungsfreiheit sei schon historisch aus dem besonderen Schutz der Machtkritik entstanden.

Man müsse Äußerungen außerdem immer im entsprechenden Kontext sehen. Das Gericht zog dafür den von Reichelt verlinkten Artikel heran, in dem er Entwicklungshilfe an Afghanistan allgemein kritisierte. Man dürfe den Tweet nicht losgelöst von der Artikelschlagzeile „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe an Afghanistan“ lesen. Einem durchschnittlichen Leser sei auch zuzumuten, den Bogen zur Überspitzung der Schlagzeile in dem Sinne zu spannen, dass Deutschland mit der Entwicklungshilfe „faktisch“ auch die Taliban finanziere.

Tweet war zulässige Meinungsäußerung

Insofern habe das KG den Tweet falsch bewertet: Er sei insbesondere in dem Kontext des Tweets als Meinungsäußerung zu verstehen gewesen, und nicht etwa als falsche Tatsachenbehauptung. Daran ändere auch eine Vermengung von Tatsachen und Meinungen nichts. Letztlich habe weder die Bundesregierung eine Entwicklungshilfe „für Afghanistan“ in Abrede gestellt, noch habe das Kammergericht bezweifelt, dass die Entwicklungshilfe auch den örtlichen faktischen Machthabern zugutekommen kann.

Die Grenze zwischen Tatsachenbehauptung und Meinungsäußerung ist im Äußerungsrecht sehr häufig ein Problem, da sie schnell verwischt. Per Beschluss hat das BVerfG unmissverständlich klargestellt, dass die Meinungsfreiheit für die Staatskritik besonderes Gewicht hat.

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