In einem aktuellen Urteil hat sich der BGH (Urteil v. 22. Januar 2009; Az. I ZR 19/07) mit der Frage auseinandergesetzt, ab wann ein Werk im Umkehrschluss zu § 6 Abs. 2 S. 1 UrhG als „nicht erschienen“ einzustufen ist und dem Herausgeber somit ein Verwertungsanspruch gem. § 71 UrhG zusteht.?
In dem vorliegenden Sachverhalt hatte die Sing-Akademie zu Berlin die Veranstalterin des Düsseldorfer Kulturfestivals „Altstadtherbst“ auf Schadensersatz verklagt, da diese die Oper im Rahmen des Festivals ohne das Einverständnis der Klägerin aufgeführt hatte. Die Sing-Akademie zu Berlin sah sich als Herausgeberin der Erstherausgabe der Vivaldi-Oper „Motezuma“, die 2002 in deren Handschriftenarchiv gefunden wurde.
Der BGH entschied, dass der Sing-Akademie zu Berlin kein Verwertungsanspruch gem. § 71 UrhG zustehe, da die Klägerin nicht glaubhaft nachweisen könne, dass das jahrhundertealte Werk noch „nicht erschienen“ sei. In der Pressemitteilung des Gerichts wurde zur Urteilsbegründung ausgeführt:
„(…)Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin – so der Bundesgerichtshof – nicht hinreichend dargelegt, dass Vivaldis Komposition zur Oper „Motezuma“ „nicht erschienen“ ist. Ein Werk ist nach §? 6 Abs.? 2 Satz? 1 UrhG erschienen, wenn Vervielfältigungsstücke „in genügender Anzahl“ der Öffentlichkeit angeboten oder in Verkehr gebracht worden sind. Das ist der Fall, wenn die Zahl der Kopien ausreicht, um dem interessierten Publikum die Kenntnisnahme des Werkes zu ermöglichen. Danach ist – so der BGH – davon auszugehen, dass die Komposition zur Oper „Motezuma“ bereits im Jahre 1733 „erschienen“ ist. Aus den von den Parteien vorgelegten Stellungnahmen namhafter Musikwissenschaftler geht hervor, dass damals die für venezianische Opernhäuser angefertigten Auftragswerke – und um ein solches handelte es sich bei der Oper „Motezuma“ – üblicherweise nur während einer Spielzeit an dem jeweiligen Opernhaus aufgeführt wurden; zudem wurde regelmäßig ein Exemplar der Partitur bei dem Opernhaus hinterlegt, von dem – wie allgemein bekannt war – Interessenten (etwa auswärtige Fürstenhöfe) Abschriften anfertigen lassen konnten. Ob es sich auch im Falle der Oper „Motezuma“ so verhalten hat, kann zwar heute nicht mehr festgestellt werden. Da die Klägerin jedoch keine Anhaltspunkte für einen abweichenden Ablauf vorgetragen hat, besteht auch in diesem Fall eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bereits mit der Übergabe des Notenmaterials an die Beteiligten der Uraufführung und der Hinterlegung eines Exemplars der Partitur bei dem Opernhaus alles getan war, um dem venezianischen Opernpublikum und möglichen Interessenten an Partiturabschriften ausreichend Gelegenheit zur Kenntnisnahme der Komposition zu geben.(…)“
(Quelle: Pressemitteilung des BGH v. 23.01.2009; Nr. 18/2009)
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