Wie viel Macht hat Amazon wirklich? Eine ganze Menge, wie nun der BGH feststellen durfte. Amazon nämlich habe eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb. Damit untersteht Amazon einer strengeren Wettbewerbsaufsicht.

Amazon ist vielen bekannt als eine der schnellsten und einfachsten Möglichkeiten, Produkte zu erwerben. Kunden haben die Option, entweder direkt von Amazon oder über die Plattform von einem dort gelisteten Händler zu kaufen. Im ersten Szenario agiert Amazon als direkter Verkäufer, im zweiten lediglich als Vermittler. Diese Doppelrolle macht es aus wettbewerbsrechtlicher Sicht schwierig, das Unternehmen einzuordnen, da es in unterschiedlichen Marktsegmenten aktiv ist. Zudem bietet Amazon Logistikdienstleistungen an und sammelt umfangreiche Daten sowohl von Nutzern als auch von Händlern.

Aufgrund der umfassenden wirtschaftlichen Einflussnahme, die aus dieser Struktur resultiert, stufte das Bundeskartellamt im Juli 2022 Amazon als ein Unternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“ eine Kategorie, die erst 2021 in einem neuen § 19a Abs. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) eingeführt worden war.

Gegen diese Einstufung hatte u.a. Amazon eine sogenannte Kartellverfahrensbeschwerde eingelegt.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Feststellung des Bundeskartellamts (BKartA) bestätigt, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb hat (BGH, Beschluss vom 23. April 2024, Az. KVB 56/22 – Amazon). Erstmals hat der BGH damit in erster und letzter Instanz über eine Beschwerde gegen eine Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB entschieden. Die Regelung dient der Modernisierung und Stärkung der wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsaufsicht. Sie sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Danach kann das Bundeskartellamt in einem ersten Schritt die überragende marktübergreifende Bedeutung des Unternehmens für den Wettbewerb feststellen (§ 19a Abs. 1 GWB) und dem betroffenen Unternehmen in einem zweiten Schritt bestimmte Verhaltensweisen untersagen (§ 19a Abs. 2 GWB).

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Die Annahme einer „überragenden marktübergreifenden Bedeutung“ erlaubt es der Behörde, bestimmte Geschäftspraktiken zu verbieten, die nicht nur bestehende, sondern auch potenzielle Märkte beeinflussen, auf denen das Unternehmen noch keine dominante Position innehat. Zum Beispiel könnte die Behörde die Bevorzugung eigener Produkte unterbinden. Im Kontext von Amazon könnte dies z.B. dann zutreffen, wenn Produkte, die Amazon selbst im Direktverkauf anbietet, in Suchergebnissen höher positioniert werden als vergleichbare Produkte von Konkurrenten, die Amazon nur als Verkaufsplatform nutzen. Dies könnte auch beim Erschließen neuer Märkte relevant sein – etwa durch das schnelle Angebot von Produktpaketen zur Festigung der Marktstellung – sowie bei der Ausnutzung von Datenhoheit.

Amazons überragende Bedeutung für den Wettbewerb

Amazon ist weltweit unter anderem im Bereich des E-Commerce, als stationärer Einzelhändler und als Anbieter von cloudbasierten IT-Dienstleistungen (Amazon Web Services, AWS) tätig. Der Konzern war zum 27. Dezember 2021 mit einer Marktkapitalisierung von 1,721 Billionen US-Dollar das fünftwertvollste Unternehmen der Welt, wobei der Börsenwert innerhalb der vorangegangenen sieben Jahre um etwa 443 % gestiegen war. Das Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2021 weltweit Umsätze von rund 469,8 Mrd US-Dollar. Auf Deutschland entfielen davon rund 37,3 Mrd US-Dollar. Damit stellte Deutschland auf den Umsatz bezogen nach den USA den zweitwichtigsten (Absatz-)Markt für Amazon dar. Die jährlichen Gewinne stiegen von (weltweit) 3 Mrd US-Dollar im Geschäftsjahr 2017 auf 33,4 Mrd US-Dollar in 2021, mithin um 1013 %. Amazon gehört mit 1,6 Millionen Mitarbeitern zum 31. Dezember 2021 zu den größten Arbeitgebern weltweit.

Das Bundeskartellamt hatte mit Beschluss vom 5. Juli 2022 nach § 19a Abs. 1 GWB festgestellt, dass Amazon.com, Inc. einschließlich der mit ihr verbundenen Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukomme. Die Feststellung sei auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft befristet. Gegen diesen Beschluss hatten Amazon.com, Inc. und eine deutsche Konzerngesellschaft Beschwerde mit dem Antrag eingelegt, den Beschluss aufzuheben. Während des Beschwerdeverfahrens wurde Amazon von der Europäischen Kommission als Torwächter (Gatekeeper) gemäß Art. 3 Digital Markets Act (DMA) benannt. Für die von Amazon betriebenen Vermittlungsplattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising gelten in der Europäischen Union seit dem 7. März 2024 die das Marktverhalten regelnden Vorschriften des DMA. 

Amazons überragende Bedeutung für den Wettbewerb

Die Beschwerde hatte jedoch nun vor dem BGH keinen Erfolg. § 19a Abs. 1 GWB sei eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts, deren Anwendung neben dem DMA zulässig sei. Da sich die Feststellungsverfügung nicht auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft beziehe, verstoße sie auch nicht gegen das sich aus der E-Commerce-Richtlinie ergebende Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat. § 19a Abs. 1 GWB müsse ferner bei der Europäischen Kommission nicht nach notifiziert werden, weil es sich nicht um eine allgemein gehaltene Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft handele. Danach bestünde kein Anlass, so der BGH, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zu richten.  

Das BKartA habe daher gemäß § 19a Abs. 1 GWB zu Recht festgestellt, dass Amazon in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig sei und dem Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukomme. 

Amazon unterhalte weltweit 21 länderspezifische Domains mit Handelsplattformen (Amazon Store) und vertreibe darüber als Hersteller und Einzelhändler physische und digitale Waren an Endkunden (etwa Amazon Retail, Home Entertainment, Twitch, Prime Video, Kindle Content, Amazon Music, Amazon Games, Amazon Echo und Amazon Alexa, Amazon Fire, Fire TV, SmartHome-Geräte). Gleichzeitig betreibe Amazon die Handelsplattformen als Online-Marktplätze und ermögliche es dritten Online-Händlern gegen Provisionszahlung, ihre Waren Endkunden anzubieten. Amazon habe eine eigene Logistikinfrastruktur und vermittele – auch in Deutschland – Versandaufträge zwischen dritten Online-Händlern und Versanddienstleistern. Amazon Advertising bringe Werbekunden und Anbieter von Werbeflächen zusammen.

Die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb setze keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraus. Vielmehr reiche dafür das Vorliegen der strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten aus, deren abstraktes Gefährdungspotential durch die Vorschrift adressiert werde.


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§ 19a Abs. 1 GWB solle dem BKartA eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalunternehmen ermöglichen, deren Ressourcen und strategische Positionierung ihnen es erlaube, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, den Wettbewerbsprozess zum eigenen Vorteil zu verfälschen sowie ihre bestehende Marktmacht auf immer neue Märkte und Sektoren zu übertragen.

Das BKartA habe insofern zutreffend festgestellt, dass Amazon über solche strategischen und wettbewerblichen Potentiale verfüge. Der Konzern sei auf einer Vielzahl von verschiedenen, vertikal integrierten und in vielfältiger und konglomerater Weise miteinander verbundenen Märkten tätig und habe eine marktbeherrschende Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler. Amazon verfüge über eine überragende Finanzkraft und einen überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten wie etwa Kunden- und Nutzerdaten, Daten aus dem Betrieb der Handelsplattformen und Werbeplattformen und damit verbundenen Diensten sowie aus dem Betrieb von AWS.

Amazon habe als Betreiber von zahlreichen nationalen Online-Marktplätzen weltweit und in Deutschland eine Schlüsselposition für den Zugang von Einzelhändlern zu ihren Absatzmärkten und könne nach Überzeugung des BGH erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit von Dritthändlern ausüben. Die nunmehrige Geltung der Regelungen des DMA und die während des Beschwerdeverfahrens gegenüber der Europäischen Kommission im Rahmen eines Missbrauchsverfahrens abgegebenen Zusagen von Amazon stünden der Feststellung ebenso nicht entgegen, so der BGH.